Feuerstuhl No. 2

Das ist erst ein Anfang

Nicht ohne Mühe hat die Macht die Unruhestifter entlarvt: die Ideen. Man hielt sie für längst tot; man wagte das Wort kaum in den Mund zu nehmen. Es gehörte sich nicht, Ideen zu haben: Das war aus der Mode. Die Welt, die sich vor unseren Augen, auf unsere Kosten herausbildete, brauchte nur Kochrezepte: ein Fingerhut Linguistik, eine Prise Marxismus, eine Messerspitze Psychoanalyse: genug, um ein tolles Essen hinzukriegen. Die Manager wachten über die Technik der hardware und der software: Vernehmt das Scheppern des Kochtopfs und den gesundheitspolizeipflichtigen Geist.

Man wird einem Computer der Generation n+1 niemals begreiflich machen, dass Ideen Gestalt annehmen können – aufhören, „rein” zu sein, auf Dreckhaufen Standarten aufpflanzen und denen, deren Appetit man zu zügeln glaubte, den Geschmack des Brotes austreiben. Sie steigen hinab auf die Straße und haben sie im Griff. Sie sind die Straße, entrollen ein Stadtviertel zur Fahne und lodern in den Mainächten sehr hoch empor. Ihr Strahlen ist für den Schatten, was die Lippen für das Blut sind.

Rikki Ducornet, Metamorphose, 1980

Nieder mit der Repression, das ist auch ein Pärchen, das sich einen Augenblick lang im Schein der Granaten umarmt.

Die Ideen besitzen nicht immer gesunden Menschenverstand. Aber immer Verstand, den heute allein die Jugend der Welt miteinander zu teilen scheint. Verstand, das heißt Sinn, gegen den UnSinn des gesunden Menschenverstandes, gegen die Sinnlosigkeit. So vieles ist in den letzten Tagen gealtert, nach Art der Vampire, denen ein Pfahl in den Leib wieder ihre Wahrheit aus Dreck und Blut verleiht! So etwa scheinbar intakte, in Wirklichkeit aber zutiefst verfaulte Wörter, die eine angeblich revolutionäre Sprache immer noch verwendet: diejenige zum Beispiel, die eines der übelsten Repressionssysteme, welche die Verlogenheit je gepriesen hat, mit dem Begriff „Volksdemokratie” bezeichnet, oder die die Vereinigung der „Kräfte des Fortschritts” beschwört und sich nur mit „bewussten und verantwortungsvollen” Organisationen abgibt. Es ist bemerkenswert, dass derartige Sprüche heute nur noch Lachsalven hervorrufen. Und nicht nur im Parlament oder in den politischen Agenturen ist diese alte Sprache in sich zusammengefallen: Im prachtvollen Chaos der Meetings hat man eifrige junge Leute Albernheiten verzapfen hören, deren plumpe Abgedroschenheit sogleich unerträglich wirkte.

Gleichzeitig wurde eine völlig neue Sprache laut, untrennbar von der Neuartigkeit der Idee, mit der sie verschmolz. Ohne etwas mit der sektiererischen Verkalktheit der alten Schlagworte gemein zu haben. Sich entfaltend: auf den Lippen ungeübter Redner, auf den wieder ihre aufrührerische Funktion erfüllenden Mauern, im Chor der endlich entfesselten Menschenmengen ist diese Sprache plötzliche Erfindung, entscheidende Geste, Genius der triumphierenden Weigerung, Humor in Aktion – auf ganz natürliche Weise.

Einfachheit, Poesie und Handeln verbinden sich in offensiver Absicht. Die Auflehnung wird zum Ort jeder möglichen Freundschaft, jeder möglichen Menschlichkeit. Das Zauberwort „Genossen” geht über jedes Dahergerede hinaus und macht es zunichte.

Jacques Lacomblez: Zeichnung in seinem
Gedichtband Bois flottés II, 2017

Diese Tumulte haben sogleich ein ihnen angemessenes Echo gefunden. Die Pariser Bevölkerung ist tagelang wieder das Volk-von-Paris geworden. Diese spontane Zustimmung der friedlichen kleinen Leute zur Bewegung der Pflastersteinwerfer ist revolutionärer als die Revolution der Spezialagenturen. Die Hände Jeanne-Maries1, eifrig mit der Betreuung der Verletzten beschäftigt, lassen jede Hand an der Feder1 lachhaft erscheinen. Das gilt auch für die Hand, welche die vorliegenden Zeilen zu Papier bringt. Aber man bummelt ein bisschen durch die Straßen, man plaudert. Warum nicht auch ohne Abstand darüber schreiben?

Die auf der Straße hinausgeschrienen Forderungen sind überspitzt. Nicht realistisch. Scheren sich nicht um die Mittel, die anzuwenden sind, um sie zu erfüllen: Sie kümmern sich nicht ums Erfüllen, vagabundieren über das Mögliche hinaus. Keine Reform käme dem nahe. Vielleicht sogar keine Revolution in diesen Zeiten. Denn es ist gerade das Mögliche, das unter Anklage steht. Das Mögliche schließt Kompromisse, passt sich an, verspricht sich Ergebnisse. Allein das Unmögliche herrscht, lockt, erregt. Da ohne Vor-, ohne Nachgeschichte, braucht es sich nicht zu rechtfertigen. Es darf mit vollem Recht versichern, es sei das Reale von morgen – immer von morgen.

Denn das heimliche Einverständnis, auf das die Bewegung – die auf die Universität oder die jungen Leute in den Fabriken zu reduzieren man sich hüten muss – gestoßen ist, ist das nicht Eingestehbare eines jeden: das, was seit der Kindheit unterdrückt, verhindert, verschüttet worden ist: das eigentliche Salz des Lebens – die Souveränität2 – die Ablehnung allen Planens – und allen Gestaltens: kurzum der Extremismus. Sicher wird man um allerlei Vermittlungen nicht herumkommen. Doch die immanente Chance bleibt bestehen.

Die Revolution ist nicht das Resultat von Techniken, die auf die Übernahme, die Erhaltung und die Organisierung der Macht zugeschnitten sind: Sie ist die beinahe physische Abstoßung der Macht – was für einer auch immer. Sie muss beim Übernehmen der Macht danach trachten, deren Prinzipien sofort außer Kraft zu setzen, die höchst wahrscheinlich von der vernichteten Unterjochung ererbt sind.

Aus dieser schwindeln machenden Perspektive wird die senile Frage „Worauf wollen sie eigentlich hinaus?” zur Provokation. Worauf – als gäbe es einen Ort, zu dem man in dem physikalischen und mentalen Raum gelangen könnte, der gegenwärtig dem Tun der Menschen zugestanden wird! Da ist nicht einmal ein auf der Karte der markierten Wege weiß ausgespartes unbekanntes Gebiet. Zutreffender wäre es zu sagen, dass das, was da unternommen wird, auf einen mythischen Kontinent zielt, der völlig außerhalb des gebräuchlichen Koordinatensystems liegt und den nur diejenigen von ferne zu Gesicht bekommen, in denen sich ein tiefgreifender Geisteswandel vollzieht. Für diese ist er wirklich oder strebt danach, es zu werden. Das ist die Macht der Imagination.

Was da auf prachtvolle Weise vor unseren Augen entsteht, was da in uns entsteht, ist weit mehr als eine Häresie oder eine Utopie: weder Ende noch Stillstand; jedes Ankommen ein Aufbrechen. Was auch immer an Entgegengesetztem geschehen mag, wir wissen heute besser, dass der Mensch eine neue Idee ist – und seine Begierde seine einzige Wirklichkeit.

30. Mai


1 Anspielung auf ein Gedicht von Rimbaud, „Les Mains de Jeanne-Marie” bzw. auf Rimbauds Ausdruck „la main à plume“ (Anm. d. Übers.)
2 hier wohl im Sinne Georges Batailles gemeint (Anm. d. Übers.)

© Egon Günther & Heribert Becker, 2018