Peter Schneider-Rabel: Mr. Fleetwood beendet
den großen Krieg (a.d. Serie „Narrenschiff"),
1988
Mischtechnik, 360 × 480 cm
Zu den heimtückischsten konterrevolutionären Institutionen gehören die Kirchen, diese Krämerläden des „Mysteriösen“ und Verewiger aller Formen der Knechtschaft. In den USA, wo eine offene Kritik an der Religion ein Tabu ist, das sogar von der orthodoxen Linken nur selten verletzt wird, hat die surrealistische Bewegung nie ein Hehl aus ihrem Atheismus oder ihrer Antipathie gegen jede Geistlichkeit gemacht. Partiell geht die Kritik der Religion seitens des Surrealismus mit derjenigen anderer revolutionärer Strömungen parallel. Man braucht nicht ein Anarchist oder eine Feministin zu sein, um sich des inhärenten autoritären und patriarchalischen Charakters der Religion bewusst zu sein, oder ein Jünger Marx’ oder Webers, um zu wissen, dass die Kirchen dazu tendieren, integrale Bestandteile der herrschenden Klasse und des Staates zu sein. Und natürlich hat Freud die sexuellen Wurzeln des religiösen Glaubens und ebenso die neurotische, persönlichkeitshemmende Rolle der Religion im Gefühlsleben aufgedeckt. Als Dichter jedoch haben wir eine spezifisch surrealistische Kritik der religiösen Institutionen und eine Strategie entwickelt, um ihnen entgegenzutreten.
Die grundlegende Erfahrung der Poesie befähigte uns, die Vertreter der Religion als Kolonisatoren des Wunderbaren zu erkennen: als brutale Ausbeuter, deren Mittel und Wege und deren Ziele eindeutig antipoetisch sind. Vor dem Aufkommen der Werbeindustrie waren die Kirchen der virulenteste institutionalisierte Ausdruck des Hasses auf die Poesie. Die religiösen Glaubenssysteme, Haupthindernis für die individuelle Entdeckung seiner selbst, veranschaulichen exemplarisch die in Ketten gelegte Imagination.
Hier wie anderswo jedoch bestehen die Surrealisten weiterhin auf einer offenen und dialektischen Herangehensweise. Unsere entschiedene Feindschaft gegen die herrschenden religiösen Mächte hat unserem kongenialen Interesse an einer beträchtlichen Reihe hermetischer und gnostischer Häresien und Heterodoxien oder an den inspirierenden Mythologien, welche die Stammesvölker in Polynesien, Melanesien, Afrika und in beiden Amerikas entwickelt haben, niemals Abbruch getan.
An die Stelle aller auf den Rationalismus sich stützenden Herangehensweisen tretend, schreitet der Guerillakrieg des Surrealismus gegen die religiöse Unterdrückung auf festem poetischen Boden voran und hebt die Freiheit des Wunderbaren, die Erotik und den Humor hervor. Unser Ziel ist nicht, Punkte bei einer Debatte zu sammeln, sondern lähmende Ängste auszurotten, die emanzipatorische Begierde zu beflügeln und allen die Tore der Poesie zu öffnen. Die Poesie zu praktizieren ist nicht nur das beste Mittel, das Heilige (natürlich in seinem säkularen Sinne verstanden) zu entdecken, sondern auch das einzige, um seiner Reifikation in der Religion oder anderen Formen von Verbot und Hemmung vorzubeugen.
Chicago, Mai 1996
Aus: Franklin Rosemont, Penelope Rosemont, Paul Garon (Hg.): The Forecast Is Hot! Tracts and Other Collective Declarations of the Surrealist Movement in the United States, 1966–1976 [Einleitung]. Chicago (Black Swan Press) 1997